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Sicherlich kann man den Leerstand von Ausstellungsräumen nicht mit dem Leerstand von Wohnungen vergleichen. Dennoch haben sie etwas gemeinsam: Es geht um ungenutzte Fläche, die gebraucht wird.
Um unsere nach der Ausstellung Stuttgart – Afghanistan vorübergehend leerstehende Sonderausstellungsfläche interimsweise zu bespielen, hatten wir uns deshalb entschlossen, einen Open Call auszurufen. Er sollte ganz bewusst niedrigschwellig sein:
Habt ihr Lust auf einen neuen Raum? Was ist eure Idee? Wie passt diese ins Linden-Museum?
Diese drei Fragen, zu Beginn der Sommerferien gestellt, verschwanden glücklicherweise nicht im Sommerloch, sondern stießen auf große Resonanz. Wir erhielten 25 Einreichungen – aus der Freien Tanz- und Theaterszene, von bildenden Künstler:innen, zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und Vereinen. Zehn Projekte haben wir schließlich ausgewählt, die von Oktober bis Dezember 2024 unter dem Label FreiRaum bei uns Platz fanden.
Interessant war, dass an unser Museum so gut wie gar nicht über die Sammlungsebene, sondern fast ausschließlich mit Themen angedockt wurde: Identität, Migration, bewusster Umgang mit natürlichen Ressourcen, Gender, Dekolonisierung, Vielstimmigkeit oder Zugehörigkeit. Für uns ein schönes Zeichen, dass die Arbeit, die wir in den letzten Jahren, v. a. auch im LindenLAB, begonnen hatten, wahrgenommen und mit uns assoziiert wird.
Ein paar Beispiele:
Den Auftakt im FreiRaum machte das syrische Netzwerk Enab Baladi e. V.: In einem engagierten Gespräch mit der Anwältin Nahla Osman ging es um rechtliche, aber auch ganz persönliche Herausforderungen für Migrant:innen. Das Publikum bestand zum großen Teil aus jungen Syrer:innen, für die meisten war es die erste Berührung mit unserem Museum. Es war ein guter Ort für sie an diesem Nachmittag.
Etliche eingereichte Tanz- und Theaterprojekte verdeutlichten, dass Raumnot (für Proben wie für Auftritte) eine große Problematik für die freie Szene in Stuttgart ist.
Die silent ladies*_ setzten sich in feminist dating humorvoll mit der patriarchalen Prägung von Romantik auseinander und stellten ernüchtert fest: „Disney hat mir unrealistische Erwartungen von der Liebe gegeben.“ Die Cie. Zeit/Geist beschäftigte in der unglaublich intensiven Tanzperformance alieNation das Gefühl der Entfremdung. Der verlorene Bezug zu unserem Körper, zur Natur, zu echtem Miteinander wird zur bohrenden Leerstelle. Führt Entfremdung in die quasi körperlose Gesellschaft, die rein dem Diktat der Zweckmäßigkeit und des Funktionierens unterworfen ist?
Mit der BLOMST! gUG für Kunst und kulturelle Teilhabe kreierte Johannes Blattner ein Tanzstück über Liebe und Zugehörigkeit für Schulklassen: Bei HERZrasen kamen wechselnde Tanzstile zum Einsatz, um Gesprächen und Reflexionen über Diversität und unterschiedliche Liebes- und Partnerschaftsformen eine Plattform zu geben. Das Stück feierte seine Premiere im FreiRaum, bevor es nun von Schulen gebucht werden kann.
Tauende Permafrostböden, schmelzende Eispanzer, steigende Meeresspiegel, Extremwetter und Trinkwasserknappheit: Die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels treffen vielfach die Menschen am härtesten, die am wenigsten dazu beitragen. Außereuropäische Perspektiven werden jedoch vielfach ignoriert. Die neu komponierten Werke des indonesischen Duos Tarawangsawelas und der indigenen Komponistin Melody McKiver aus Kanada setzten als Teil der Klanginstallation Bodies of Water musikalische Mahnmale für das Wasser. Kombiniert wurde das Ausstellungsprojekt des PODIUM Esslingen mit einem bildstarken inszenierten Konzert.
Auf Umweltzerstörung möchte auch Boglárka Balassa in ihrer forschenden künstlerischen Praxis aufmerksam machen: Sie befasst sich mit der Verwendung und Verarbeitung von Naturmaterialien, ihrer Veränderung im Laufe der Zeit, ihrer Herkunft und ihrem Ursprung. Sie sucht Orte auf, wo diese Traditionen noch lebendig sind. Ihre Arbeiten entstehen im unmittelbaren Kontakt mit der Natur, sie nutzt pflanzliche Textilfärbung für ihre Objekte und erstellt in Videos zusätzlich eine Art Dokumentation über die verwendeten Pflanzen. Die Werke zu ihrer Ausstellung Colours Under Our Steps entstanden bei einem vom ifa geförderten Aufenthalt in Armenien.
Ebenso prozesshaft und dokumentarisch wie Balassas Herangehensweise ist die der kubanischen Künstlerin Karina Pino Gallardo. Sie präsentierte den Auftakt zu ihrem Langzeitprojekt Letters for the Future: Was ist die Zukunft? Wie stellen wir sie uns vor? Wer wird die Erde in 100 Jahren bewohnen? Wie können wir einen Dialog mit einer Zeit führen, in der es uns nicht mehr geben wird? Vier Frauen mit Migrationshintergrund – Nur Alamir, Marielvis Calzada, Elham Kanaani und sie selbst – schrieben Briefe an ein Morgen, das sie nicht kennen. Es sind sensible persönliche und gleichzeitig politische Reflexionen über ihre eigene Welt, die sie hinterlassen wollen. Jeder Brief ist eine Spur, die nach vorne geworfen wird, ein möglicher Archivgegenstand in einem zukünftigen Museum der Vergangenheit. Vier persönliche Stücke, die Teil eines größeren Mosaiks sind, das Pino Gallardo in den nächsten Jahren plant. Diese Frauen öffneten ihre Welt für uns.
Einen eigenen Raum bespielte für zwei Monate das Projektlabor Connect 0711 – Haus der Kulturen der Abteilung für Integrationspolitik der Stadt Stuttgart. Das Labor befasste sich in verschiedenen Formaten mit transkultureller Begegnung, Empowerment sowie Sensibilisierung für Rassismus und kulturelle Aneignung. Wir wünschen dem Projekt, das ein sehr diverses Publikum anzog, zunächst aber wieder heimatlos ist, dass es bald neue Räume findet.
Wir hatten für FreiRaum Ziele formuliert: Zunächst wollten wir Raum für engagierte Menschen in der Stadt schaffen. Natürlich ging es uns auch um die Belebung des Museums, die Erweiterung, Diversifizierung und Verjüngung unseres Publikums durch ein neues Angebot und das auf persönlichen Begegnungen aufbauende Knüpfen von neuen Netzwerken. Die Räume wurden mit gesellschaftlich relevanten Inhalten bespielt, sie wurden neu definiert und überraschten. Für manche Künstler:innen und Besucher:innen war es die erste Begegnung mit unserem Museum oder überhaupt der Institution Museum. Die Rückmeldungen waren schön, ehrlich und ermutigend: FreiRaum war definitiv ein Beitrag zu einer notwendigen Öffnung unseres Hauses, aus dem wir viel mitnehmen sollten.
Als Museum ist man ein „Kulturtanker“: ein Dickschiff mit einer gewichtigen Fracht, das auf festgelegten Routen die immer gleichen Häfen ansteuert. FreiRaum war auch der Selbstversuch, Sicherheiten über Bord zu werfen, wendiger zu werden, zu gucken, wer sonst noch auf See ist und sich darauf einzulassen. Ganz konfliktfrei war das intern nicht – durch ein paar Windböen mussten wir in der Organisation als Team gemeinsam durch. Das hat uns aber auch zusammengebracht – und wir haben gelernt, wie wir Stürme in Zukunft leichter umschiffen. Und die Zeiten am Sonnendeck haben sowieso klar überwogen.
Dienstag bis Samstag, 10 – 17 Uhr
Sonn- und Feiertage, 10 – 18 Uhr